TIPPS

GUSTAV FREYTAG


DAS WESEN DES DRAMAS

Dramatisch sind diejenigen starken Seelenbewegungen, welche sich bis zum Willen und zum Tun verhärten, und diejenigen Seelenbewegungen, welche durch ein Tun aufgeregt werden; also die innern Vorgänge, welche der Mensch vom Aufleuchten einer Empfindung bis zu leidenschaftlichem Begehren und Handeln durchmacht, sowie die Einwirkungen, welche eigenes und fremdes Handeln in der Seele hervorbringt; also das Ausströmen der Willenskraft aus dem tiefen Gemüt nach der Außenwelt und das Einströmen bestimmender Einflüsse aus der Außenwelt in das Innere des Gemüts; also das Werden einer Tat und ihre Folgen auf das Gemüt.

Nicht dramatisch ist die Aktion an sich und die leidenschaftliche Bewegung an sich. Nicht die Darstellung einer Leidenschaft an sich, sondern der Leidenschaft, welche zu einem Tun leitet, ist die Aufgabe der dramatischen Kunst; nicht die Darstellung einer Begebenheit an sich, sondern ihrer Einwirkung auf die Menschenseele ist Aufgabe der dramatischen Kunst. Ausführung leidenschaftlicher Seelenbewegungen als solcher ist Sache der Lyrik, Schilderung fesselnder Begebenheiten ist Aufgabe des Epos…

Die dramatische Person soll menschliche Natur darstellen, nicht wie sie sich tätig und gefühlvoll in ihrer Umgebung regt und spiegelt, sondern ein großartig und leidenschaftlich bewegtes Innere, welches danach ringt, sich in die Tat umzusetzen, Wesen und Tun anderer umgestaltend zu leiten. Der Mensch des Dramas soll in starker Befangenheit, Spannung und Wandlung erscheinen; vorzugsweise die Eigenschaften werden bei ihm in Tätigkeit dargestellt, welche im Kampf mit anderen Menschen zur Geltung kommen, Energie der Empfindung, Wucht der Willenskraft, Beschränktheit durch leidenschaftliches Begehren, gerade die Eigenschaften, welche den Charakter bilden und durch den Charakter verständlich werden. Es geschieht also nicht ohne Grund, daß die Kunstsprache kurzweg die Personen des Dramas Charaktere nennt.

Die Art und Weise der dramatischen Charakterbildung durch die Dichter zeigt die größte Mannigfaltigkeit. Sie ist zunächst nach Zeiten und Völkern verschieden. Sehr verschieden bei Romanen und Germanen. Das Behagen an charakterisierenden Einzelheiten ist von je bei den Germanen größer gewesen, bei den Romanen größer die Freude an der zweckvollen Gebundenheit der dargestellten Menschen durch eine kunstvoll verschlungene Handlung. Tiefer faßt der Deutsche seine Kunstgebilde, ein reicheres inneres Leben sucht er an ihnen zur Darstellung zu bringen, das Eigentümliche, ja Absonderliche hat für ihn großen Reiz. Der Romane aber empfindet das Beschränkte des Einzelnen vorzugsweise vom Standpunkt der Konvenienz und Zweckmäßigkeit, er macht die Gesellschaft, nicht wie der Deutsche das innere Leben des Helden, zum Mittelpunkt, ihn freut es, fertige Personen, oft nur mit flüchtigem Umriß der Charaktere, einander gegenüber zu stellen; ihre verschiedenen Tendenzen sind es, wodurch sie im Gegenspiel zu einander anziehend werden. Auch da, wo genaue Darstellung eines Charakters, wie bei Molière, die besondere Aufgabe ist, und wo die Einzelheiten der Charakteristik hohe Bewunderung abnötigen, sind diese Charaktere, der Geizige, der Heuchler, meist innerlich fertig, sie stellen sich mit einer zuletzt ermüdenden Eintönigkeit in verschiedenen gesellschaftlichen Beziehungen vor, sie werden trotz der Vortrefflichkeit der Zeichnung unserer Bühne immer fremder werden, weil ihnen das höchste dramatische Leben fehlt, das Werden des Charakters. Wir wollen auf der Bühne lieber erkennen, wie einer geizig wird, als wie er es ist.

Was also dem Germanen die Seele füllt, einen Stoff wert macht und zu schöpferischer Tätigkeit reizt, ist vorzugsweise die eigenartige Charakterbewegung der Hauptfiguren, ihm gehen in schaffender Seele leicht zuerst die Charaktere auf, zu diesen erfindet er die Handlung, aus ihnen strahlt Farbe, Licht und Wärme auf die Nebenfiguren; den Romanen lockt stärker die fesselnde Verbindung der Handlung, die Unterordnung des Einzelwesens unter den Zwang des Ganzen, die Spannung, die Intrige. Dieser Gegensatz ist alt, er dauert noch in der Gegenwart. Dem Deutschen wird es schwerer, zu den tief empfundenen Charakteren die Handlung aufzubauen, dem Romanen verschlingen sich leicht und anmutig die Fäden derselben zu einem kunstvollen Gewebe. Diese Eigentümlichkeit bedingt auch einen Unterschied in der Fruchtbarkeit und in dem Werte der Dramen. Die Literatur der Romanen hat wenig, was sie den höchsten Leistungen des germanischen Geistes an die Seite setzen kann; aber den schwächeren Talenten unseres Volkes gedeiht bei ihrer Anlage häufig kein brauchbares Theaterstück. Einzelne Szenen, einzelne Personen erwärmen und fesseln, dem Ganzen fehlt die saubere, spannende Ausführung. Den Fremden gelingt das Mittelgut besser; auch da, wo weder die dichterische Idee noch die Charaktere Anspruch auf dichterischen Wert haben, unterhält noch die kluge Erfindung der Intrige, die kunstvolle Verbindung der Personen zu bewegtem Leben. Während bei den Germanen jenes höchste Dramatische: das Durcharbeiten der Empfindung in der Seele bis zur Tat, seltener, aber dann wohl einmal mit unwiderstehlicher Kraft und Schönheit in der Kunst zutage kommt, findet sich bei den Romanen weit häufiger und fruchtbarer die zweite Eigenschaft des dramatischen Schaffens: die Erfindung des Gegenspiels, die wirkungsvolle Darstellung des Kampfes, welchen die Umgebung des Helden gegen die Beschränktheiten desselben führt.

Gustav Freytag Die Technik des Dramas (2. und 4. Kapitel)